Am 25. März 2025 wird die Taschenbuchausgabe der ‘Unerhörten Frauen’ bei Ullstein erscheinen. Darin wird auch das zusätzliche Kapitel zu ‘Liebe und Freundschaft’ erscheinen, das für die englische Version erstellt wurde. Im Vorgriff darauf erscheint hier alsAuszug der dritte Teil des Kapitels, das die Christus-Johannes-Gruppe vorstellt.

Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber: Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen. Berlin: Propyläen 2023. ISBN 978-3-54-910037-0. Blogpost mit Rezensionen, Leseproben und Podcasts. Erweiterte englische Fassung: The Life of Nuns. Love, Politics, and Religion in Medieval German Convents, transl. by Anne Simon, open access 2024 über Open Book Publishers, https://doi.org/10.11647/OBP.0397.

3. Die Christus-Johannes-Gruppe als geistliche Brautschaft

Eine besonders eindrückliche Darstellung einer Nähe-Beziehung ist eine Form der Christus-Johannes-Gruppe, die sich vor allem in süddeutschen Frauenklöstern des oberrheinisch-alemannischen Raums findet. Sie stellte den Nonnen die besondere Liebes-, Vertrauens und Freundschaftsbeziehung zwischen Johannes und Christus vor Augen und bot ihnen in dem jungfräulichen Jüngling des EvangelisteFn eine Identifikationsfigur. Christus hatte Johannes am Kreuz die Mutter Maria anvertraut und damit – in der Nachfolge Mariens – auch die Nonnen. Johannes war Christus aufgrund seiner Jungfräulichkeit in körperlicher Hinsicht so nah wie Nonnen, wobei sie auch die Nachfolge Christi (imitatio Christi) einte.

Abbildung 2: Heiligkreuztaler Christus-Johannes-Gruppe. Photograph: Markus Schwerer ©Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg

Die Darstellung ist entwickelt aus der Abendmahlsgeschichte, als Johannes, „der Jünger, den Jesus liebte“, in schmerzlicher Überwältigung über die Leidensankündigung Jesu an seiner Brust ruhte. Diese Geste verselbstständigt sich als Verkörperung der engen Verbindung der gläubigen Seele mit Christus, auch ‚Johannesminne‘ genannt; zuerst ab dem 12. Jahrhundert in der Buchmalerei für Johannesfeste, z.B. im Graduale aus dem schweizerischen Dominikanerinnenkloster St. Katharinental von 1312, die auch eine ähnliche Skulptur besaßen, denn die Klosterchronik berichtet: „St. Johannes Bild wart von Meister Heinrich, dem Bildhauern aus Constantz, uss einem Nussbaum so schön gemacht, dass jedermann verwunderte, der Meister selbst“. Das verweist auf eine oder mehrere Werkstätten in der Gegend von Seeschwaben und Oberrhein, die solche hochwertigen Figurengruppen, wie auch z.B. Heimsuchungsszenen, für Frauenklöster produzierten, u.a. Augustinerchorfrauen in Inzigkofen (bei Sigmaringen), Dominikanerinnenkloster Mariaberg (zwischen Sigmaringen und Reutlingen), Zisterzienserinnen-Kloster Wald bei Meßkirch und die Benediktinerinnen von St. Martin in Hermetschwil (Schweiz) um 1320. Insgesamt sind nur noch wenige solcher Skulpturen an Ort und Stelle verblieben. Eine davon ist die Gruppe aus Heiligkreuztal, die mit einer Höhe von 101 Zentimetern fast zwei Drittel Lebensgröße hat. Die Rückseite ist ausgehöhlt, da die Gruppe nicht freiplastisch stand, sondern ursprünglich in einem Altarschrein verwahrt wurde, der zu besonderen Gelegenheiten geöffnet wurde. Die mittelalterliche Farbigkeit war sicher zurückhaltender – Farbreste an anderen Gruppen, wie der aus Inzigkofen (jetzt im Bodemuseum, Berlin), weisen eine ähnliche Gesichtsgestaltung mit leicht geröteten Wangen und Mündern, aber sehr viel weniger leuchtende Gewänder auf. Die Bemalung der Heiligkreuztaler Gruppe wurde in der Barockzeit aufgefrischt und dem Geschmack der Zeit entsprechend durch eine Lüsterfassung mit einem metallenen Schimmer versehen, der edle Materialien nachahmen sollte – ein Zeichen für die Wertschätzung, die das mittelalterliche Andachtsbild in der Gemeinschaft bis in die Neuzeit erfuhr. Jetzt ist sie in einer Nische untergebracht, die eine Betrachtung auf Augenhöhe ermöglicht, wie es wohl für die Nonnen der Fall war. Dort sitzt Christus, bärtig und mit langen, dunklen Haaren, auf einer Bank mit dem bartlosen, blondgelockten Jüngling Johannes. Der Kopf des Johannes ist auf die Brust Christi gesunken und er ruht mit geschlossenen Augen, während der sich ihm mit Kopf und Körper zuneigende Christus die Linke auf Johannes‘ Schulter legt und ihre beiden rechten Hände ineinander greifen. Es ist die Geste der Verlobung, die sich in der Antike etabliert hatte als dextrarum iunctio, wie das in mittelniederdeutschen Gedichten aus den Lüneburger Klöstern erwähnte ‚durch Handreichen anvertrauen‘ (hand-truwen). Die vertrauliche Gestik der Hände ruft gleichzeitig das Hohelied auf, wo es von der liebeskranken Braut heißt, dass „seine linke Hand unter meinem Kopf ist, seine rechte Hand mich umfängt“ (Hohelied 2,6).[41] Die beiden Figuren, die jeweils ein langärmeliges Untergewand mit Goldsaum tragen und deren weit fallender Umhänge im parallelen Schwung über ihre Knie gelegt bis zu ihren nackten Füßen reichen, zeigen vollkommene Einheit, buchstäblich aus einem Block gehauen, unzertrennbar. Der Blick Christi geht aber nicht zu Johannes, sondern direkt auf die betrachtende Person. Dem Blick wird in der mittelalterlichen Literatur eine geradezu physische Strahlkraft zugesprochen, die Augen galten als ‚Einfallstor der Liebe‘. Der Blick ist dabei der Startpunkt für ein Wachsen der Liebe bis hin zur physischen Vereinigung. Ein Hexameter zu den gradus amoris, den Stufen der Liebe, bringt das auf die Kurzformel: Der Blick führt zur vertraulichen Unterredung, die zur Berührung, von dort zum Kuss – und endlich zum Akt der Vereinigung (visio, colloquium, tactus, osculum, actus). Der Blickwechsel zwischen Christus und der Nonne als Betrachterin bezieht sie so in den Liebesbund zwischen Johannes und Christus ein; umgekehrt bedeutet er, dass der jungfräuliche Jüngling Johannes die Stelle der Nonne als Braut Christi vertritt. 

Physische Nähe zu Christus war für die Nonnen auf mehreren Ebenen gegeben. Im Abendmahl empfingen sie Leib und Blut Christi, wobei er vor den geistigen Augen in seiner Körperlichkeit präsent sein sollte. Die zahlreichen Christusskulpturen in Kloster Wienhausen zeigen das besonders plastisch. In der Seitenwunde der Statue des auferstandenen Christus in Wienhausen ist ein Loch, hinter dem möglicherweise die Heiligblutreliquie des Klosters aufbewahrt wurde, sodass das leibliche Blut Christi das hölzerne Abbild zur Realpräsenz werden ließ. 

Abbildung 3: Der Auferstehungschristus. Photograph: Wolfgang Brandis ©Kloster Wienhausen

Die Figur veränderte sich mit den Kirchenfesten. Zu Ostern konnten zwei Engel neben die zentrale Figur als Verkündigung der Auferstehung gestellt werden und Christus erhielt eine Siegesfahne in die Hand. So wie die Priester unterschiedliche Ornate mit den verschiedenen Farben des Kirchenjahres hatten, hatten auch Christus und die Engel ‚heilige Röcke‘, die farblich die Fasten- oder Freudenzeit für die Nonnen signalisierten. Die Nonnen hatten sie in ihren Paramentenwerkstätten ebenso wie die Klerikerornate aus den kostbaren Stoffen hergestellt, von denen einige als ihre eigene Aussteuer ins Kloster gekommen waren – Christus wurden damit die Festkleider der Nonnen auf den Leib geschneidert. Gewänder wurden auch für die Christkinder hergestellt, für die sich nicht nur Kleider, sondern auch Wiegen erhalten haben. Der überlebensgroße Christus im Heiligen Grab in Wienhausen konnte ebenfalls von den Nonnen berührt und umgebettet werden: Er wurde aus dem Sarg genommen und aufgebahrt. 

Abbildung 4: Das Heilige Grab in Wienhausen

Auch durch die Reliquien im Kopf war das weit mehr als eine hölzerne Figur, sondern eine Realpräsenz mitten im Konvent – einige Christusdarstellungen sind durch ihre eingebauten Hostienbehälter gleichzeitig Sakramentshaus, Aufbewahrungsort für das in den Leib Christi verwandelte Brot. 

Viele Texte aus der mystischen Tradition der Frauenklöster entwickeln Dialoge mit Christus, die die leidenschaftliche Liebessprache des Hohenlieds aufgreifen und weiterführen. In besonderer Weise tun das drei Frauen, die in und um das Kloster Helfta im 13. Jahrhundert die Texte schreiben, die dann später die Klosterbibliotheken ebenso füllten wie sie modellhaft für Laienfrömmigkeit wurden: Mechthild von Magdeburg (ca. 1207–ca. 1282), Mechthild von Hackeborn (ca. 1240–1298) und Gertrud die Große (1256–1302), die im ‚Boten der göttlichen Liebe’ (Legatus Memorialis Abundantiae Divinae Pietatis) eine großangelegte Liturgieexegese schuf. Eine der Visionen, die Gertrud zum Nutzen ihrer Mitschwestern festhielt, liest sich wie die direkte literarische Fassung der Christus-Johannes-Gruppe. Als Gertrud im Nonnenchor bei der Matutin am Johannestag assistiert, nimmt Johannes selbst Gertruds Seele bei der Hand, entrückt sie im Geist und führt sie zu Christus, um gemeinsam mit ihr an der Brust Christi zu ruhen (Buch IV,4). Er platziert sie zu dessen Linken, während er selbst rechts Platz nimmt, wie eine vervielfältigte Spiegelung der Gruppe. Gertrud berichtet, wie sie ihren Kopf neben die Seitenwunde Christi legt und sein Herz klopfen hört. Sie fragt Johannes darauf, warum er, wenn er das auch bei seinem Ruhen an der Brust Christi gespürt hätte, nicht aufgeschrieben habe – worauf Johannes antwortet, dass das Lauschen auf den Herzschlag Christi als Offenbarung für eine spätere Zeit bestimmt war, wenn die Welt, nachdem ihre Liebe zu Gott erkaltet war, diese wiederbeleben musste. Aber Gertrud bleibt bei diesem Reenactment der Abendmahlsszene nicht stehen, sondern entwickelt sie lebendig weiter. In einer eindrucksvollen Wendung ermöglicht Johannes Gertrud auf ihren Wunsch hin, ihn in seiner himmlischen Form zu sehen. Plötzlich sieht sie ihn auf einem ‚unendlichen Ozean im Inneren des Herzens Jesu‘ schweben, da er so trunken von der Lust wurde, Gott zu schmecken, dass sein Evangelium aus einer Ader seines Herzens hervorbrach und sich über die ganze Welt ergoss. Wenn die Nonnen am Johannistag mit der Liturgie die biblische Geschichte immer wieder neu belebten, dann halfen die äußeren Augen, die die Christus-Johannes-Gruppe sahen, den inneren den ganzen Kosmos zu erschließen, der diese Geschichte einer besonderen Beziehung umfasste. Das war für sie in einzigartiger Weise im Kloster möglich, wie Johannes bestätigte: Ihm war die Liebe Christi als Lohn für seine Jungfräulichkeit geschenkt worden und so war es auch ihnen versprochen.

Die Werke der Frauen aus Helfta und darauf aufbauende Andachtstexte wie die der Medinger Nonnen entwickeln Modelle von Brautmystik, die geschlechterübergreifend adaptiert werden und wirkmächtig sind. Über die Reformation hinweg beflügeln sie so die Sprache und Bilder der Liebe, die die Nonnen im Kloster entwickelt hatten, die Vorstellungskraft und prägen brautmystische Frömmigkeit in geistlicher Literatur, Musik und Kunstwerken weit über die Reformation hinaus. 


Liebe und Freundschaft im Frauenkloster
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